Standpunkte

Die freiheitliche demokratische Grundordnung

Bundespräsident Richard von Weizsäcker betonte in seiner Rede zum 40. Jahrestag des Grundgesetzes am 24. Mai 1989: „Im Bund und in den Ländern war eine Generation politisch am Werk, die durch Erfahrung klug geworden war. Sie wußte, daß es in der Weimarer Zeit nicht zu früh zu viele Extremisten gegeben hatte, sondern zu lange zu wenige Demokraten. Man hatte davon gelernt, was Demokraten nie vergessen dür­fen, nämlich bei allem Streit zuerst daran zu denken, was sie gemeinsam zu schützen haben.

Wir haben Grund zur Achtung vor dem Verantwortungssinn der Männer und Frauen, die nach dem Krieg die politischen Ge­schicke unseres Staates lenkten. Ihnen ist zu danken, daß die Bereitschaft zum elementaren Streit mit der Kraft zum grundlegenden Konsens verbunden blieb. Das hat unsere Demo­kratie stark gemacht, und ich meine, bis auf den heutigen Tag!“

Von der Bereitschaft zum elementaren Streit und der Kraft zum grundlegenden Konsens ist in der Gesellschaft nicht mehr viel zu spüren. Es wird Zwietracht gesät, es werden Gruppen gegeneinander aufgewiegelt, Menschen diskreditiert, ihr öffentliches Ansehen und ihre berufliche Karriere zerstört, wenn sie nicht die richtige Meinung haben und es wagen, diese öffentlich zu äußern. Es gibt nahezu kein für die Gesellschaft bedeutendes Thema mehr, das öffentlich aus verschiedenen Perspektiven sachlich und mit dem gehörigen Tiefgang diskutiert werden könnte.

Das ist eine außerordentlich gefährliche Entwicklung, der die Gesellschaft mit aller Entschiedenheit Einhalt gebieten muß.

Der liberale Rechtsstaat, der Deutschland Jahrzehnte des Friedens (jedenfalls im eigenen Land) und den wirtschaftlichen Wiederaufstieg nach dem Zweiten Weltkrieg ermöglichte, ist unter heftigem Beschuß, und die Geschütze stehen nicht nur da, wo man sie erwartet hätte.

„Rechtsstaat“ bedeutet zuvörderst Gleichheit vor dem Gesetz. Wo sie nicht einmal mehr erstrebt wird, ist der Rechtsstaat beseitigt. Herrschaft des Rechts ist das Gegenteil von Herrschaft durch Recht.

„Rechtsstaat“ bedeutet zudem Rechtssicherheit. Friedrich August Hayek drückt den Unterschied zwischen den Verhältnissen in einem freien Land und denen einem willkürlich regierten so aus: „Wenn man von allen technischen Einzelheiten absieht, so bedeutet dies, daß die Regierung in allen ihren Handlungen an Normen gebunden ist, die im voraus festgelegt und bekanntgegeben sind – Normen, nach denen man mit ziemlicher Sicherheit voraussehen kann, in welcher Weise die Obrigkeit unter bestimmten Umständen von ihrer Macht Gebrauch machen wird und die es dem einzelnen erlauben, sein persönliches Verhalten danach auszurichten.“

Die Grundrechte werden vom Staat nicht gewährt, sondern sie sind von ihm zu gewährleisten. Das ist eine fundamentale Aussage, die in Artikel 1 Absatz 2 des Grundgesetzes Niederschlag gefunden hat: „Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.“

Gleichwohl konnten wir in den letzten Jahren von führenden Politikern die Aussage hören, die Grundrechte könnten den Bürgern unter diesen oder jenen Voraussetzungen „zurückgegeben“ werden. Mit dieser Aussage werden die Grundrechte als solche negiert, weil es gerade die Eigenart von Grundrechten ist, daß sie vom Staat nicht genommen und folglich auch nicht zurückgegeben werden können.

Der liberale Rechtsstaat schützt neben vielen weiteren Ableitungen der Menschenwürde das allgemeine Persönlichkeitsrecht: „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.“ Das allgemeine Persönlichkeitsrecht schützt die unterschiedlichsten Lebensentwürfe, die Freiheit, selbst über seine persönlichen Angelegenheiten oder darüber zu entscheiden, wie man sich in der Gesellschaft gibt. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht verwehrt dem Staat eine Vernunfthoheit über den einzelnen. Der Bürger muß sein Verhalten nicht an dem ausrichten, was die Allgemeinheit für vernünftig oder geboten hält, und er muß dieser gegenüber für seine Entscheidung auch nicht Rechenschaft ablegen.

Es gibt den schönen Satz von Benjamin Franklin: „Demokratie, das ist, wenn zwei Wölfe und ein Schaf über die nächste Mahlzeit abstimmen. Freiheit, das ist, wenn das Schaf bewaffnet ist und die Abstimmung anficht.“

Ich halte die Aussage aber für nicht ganz richtig: Mitnichten ist eine Mehrheitsentscheidung als solche schon demokratisch. Demokratisch ist sie nur, wenn der Beschlußgegenstand in die Kompetenz der Mehrheit fällt. Welche Kompetenzen die Mehrheit gegenüber dem einzelnen hat oder nicht hat, bestimmen maßgeblich die Grundrechte, die als Abwehrrechte des Bürgers gegen einen zur Übergriffigkeit neigenden Staat konzipiert sind.

Hayek schrieb auch, es sei das „große Verdienst des Liberalismus, daß er die Fragen, auf die man sich im Staate einigen mußte, auf solche beschränkte, für die eine solche Übereinstimmung in einer Gesellschaft freier Menschen als wahrscheinlich vorausgesetzt werden konnte“.

Wenn jedem in möglichst weitem Umfang das Recht zugebilligt ist, sein Leben nach eigenen Vorstellungen zu führen, schützt dies den gesellschaftlichen Frieden.

Die jetzt im Grundgesetz niedergelegte freiheitliche demokratische Grundordnung wurde in den Jahrhunderten seit der Aufklärung erkämpft. Sie hat uns Jahrzehnte des Friedens und einen in historischer Perspektive einmaligen Wohlstand ermöglicht. Sie muß gegen jeden Angreifer entschlossen verteidigt werden.